Lípa Musica

Das internationale Musikfestival Lípa Musica feierte im vorigen Jahr würdig sein zehntes Jubiläum. Das ursprünglich lokale, aus Česká Lípa stammende Festival, welches auf geistliche Musik orientiert war, wurde im Lauf der Jahre ein bedeutendes musikalisches und gesellschaftliches Fest, dessen Beginn mit jedem Herbstanfang ungeduldig erwartet wird.

Während der zehnjährigen Geschichte des Lípa-Musica-Festivals fanden in der Region Nordböhmen mehr als 100 Konzerte statt. Anlässlich dieser Veranstaltungen wurden immer die besten und interessantesten Interpreten vorgestellt, die die Welt den Freunden klassicher Musik anbieten konnte. Bedeutende Künstler und Ensembles der tschechischen Musikszene bereiteten den Besuchern dieser Konzerte ein besonderes Erlebnis.

Die Opernsängerinnen Dagmar Pecková und Eva Urbanová, der weltberühmte Gittarenspieler Pavel Steidl sowie die Tschechische Philharmonie, die Prager Kammerphilharmonie und andere Künstler waren Höhepunkte des nordböhmischen Festivals.

Gleichfalls öffnete Lípa Musica ihre Kunstszene auch attraktiven ausländischen Musikern. Ihre Dramaturgie brachte dem Publikum der verschiedenen Festivalorte eine ganze Reihe von Künstlern aus europäischen Ländern, Russland und sogar auch aus Japan. Der gemeinsame Auftritt buddhistischer Mönche mit der Schola Gregoriana Pragensis war für die Zuhörer ein einmaliges Erlebnis.

Dies und vieles andere wurde in den zehn Jahren des Bestehens von den Veranstaltern dem Publikum unterbreitet. Das Festival wurde zum anerkannten und hoch geschätzen Kulturereignis. Dadurch wurde das bestehende Vorurteil über ein niedriges Kulturniveau in Nordböhmen und generell im Grenzgebiet widerlegt. Die Feier von zehn Jahren Lípa Musica sollte Anlass für Rückerinnerung aber auch für eine gestalterisch positive Zukunftsperspektive sein.

Der Umfang dieses sich regelmäßig wiederholenden Kulturfestes ist bereits ein grenzüberschreitendes Ereignis, das sowohl eine musikalische, als auch eine gesellschaftliche Angelegenheit darstellt. Die Konzerte finden nicht nur in der Region von Česká Lípa, sondern auch in mehreren Orten des Reichenberger Bezirkes statt. Die gewonnene positive Resonanz der vergangenen Jahre soll auch während der Festivaldauer 2012 weiter umgesetzt und gesteigert werden zum Vorteil von Besuchern und Interpreten.

Das Festival hat die Verpflichtung seine im Lauf der Jahre gewachsene gesellschaftliche Rolle anzunehmen und weiter zu entwickeln. Ein wesentlicher Bestandteil neuer Dialoge sowie der Eingliederung weiterer Persönlichkeiten in das Programm ist auch ein Bedarf an grenzüberschreitender und internationaler Zusammenarbeit, die bisher nur mittels ausländischer Gäste durchgeführt wurde. In diesem Jahr haben wir einen Kulturexport vor, geplant werden zwei Konzerte im nahen Grenzgebiet, in den sächsischen Städten Zittau und Großschönau.
Es gibt mehrere Gründe für diese Entscheidung. Das Festival möchte sich auf traditionelle Zentren der Region beidseits der Grenze konzentrieren. Es verspürt den Bedarf, sich im Nachbardialog zwischen der Region Nordböhmen, wo das Festival zu Hause ist, und Sachsen zu engagieren. Mit Sachsen verbinden uns zahlreiche historische Bündnisse und viele gegenwärtige und künftige Berührungspunkte.

Zwischen Böhmen und Sachsen führte von jeher ein Handelspfad, der die Siedlungsstadt Prag mit der nördlichsten Stadt des böhmischen Königtums Zittau verband. Seit alters führten diese Wege durch Engpässe der Lausitzer Berge über Böhmen bis zur Nordsee. Der wichtigste Weg führte von Prag über Zittau und Görlitz, dabei überschnitt sich dieser mit der bekannten Via Regia. Zittau wurde allmählich zu einem bedeutenden Zentrum der Macht und des Einflusses des tschechischen Königs. Auf diesem Wege wuchsen Siedlungen, Städte, Festungen und Klöster. Neben der Handelsware fand auch der gedankliche und kulturelle Austauch in beiden Richtungen statt.

Der Zittauer Weg erinnert an Emigranten, die hier in Tränen wanderten um ein neues zu Hause und Ruhe ihrer verfolgten Seele zu finden. Das erste Mal lebte der Weg nach Zittau mit dem Exulantenstrom zur Zeit der hussitischen Kriege auf. Einen weiteren Exodus erlebte der Zittauer Weg nach der Niederlage des böhmishen Ständeaufstandes am Anfang des dreißigjährigen Krieges. Die gewaltige Rekatolisierung vertrieb aus dem böhmischen Königreich Tausende von evangelischen Familien in das benachbarte Sachsen, um möglichst nahe ihrer bisherigen Heimat sein zu können. Das Hauptziel der böhmischen Exulanten wurde Zittau, das von drei Seiten die böhmische Grenze umspannte.

In der Gegenrichtung flohen auf dem uralten Weg während der 30er Jahren des 20. Jahrhunderts überwiegend Juden, Intellektuelle und auch Sorben der Enklave Lausitz, die durch Nazi Deutschland verfolgt wurden. In Jahren 1938 und 1939 musste der Zittauer Weg der Besatzung der Tschechoslowakei zuschauen. Gleichzeitig fand die ungewollte Vertreibung der seit Generationen in diesem Gebiet lebenden Menschen über ihn statt.
Heute bemühen wir uns die Tradition des alten Weges, auf dem schon immer Handels- und Geistesartikel wanderten, erdenklich zu erneuern. In den neunziger Jahren erwarb sich hauptsächlich der vor kurzem verstorbene Präzident Václav Havel Verdienste um die Förderung der beidseitigen Beziehungen. Auch dank ihm gestaltete Deutschland und die Tschechische Republik im Jahre 1997 eine gemeinsame Deklaration, die die positive Entwicklung gegenseitiger Beziehungen anstrebte. Ein gemeinsamer Kontakt ist die pragmatische Bedingung des Ausgleiches mit der Vergangenheit und des Aufbaus der künftigen Angelegenheiten, an denen beide Seiten interessiert sind.
Der deutsch-tschechische Kulturdialog hat eine reiche Tradition und das gilt insbesondere für die nordböhmische Region. Es verbinden uns gemeinsame historische Bündnisse und künftige Anforderungen. Das internationale Musikfestival Lípa Musica könnte, im Hinblick auf seine Ambitionen, zum Symbol der gegenwärtigen und künftigen musikalischen Begegnungen werden. Es ist notwendig miteinander zu sprechen, zu leben und zu erleben. Auf dieser Idee kann man die Zukunft bauen.
Die herrliche Musik ermöglicht uns dies und wird zum Anreger dieser edlen Idee. Ein gemeinsames ästhetisches Erlebnis vermittelt die Konsonanz. Die Konsonanz ist eine Bedingung des Dialoges, der Dialog ist eine Bedingung für die Findung der früheren Partnerschaft und Freundschaft. Das ist eine Aufforderung des Festivals Lípa Musica für weitere Jahrzehnte seines Bestehens.

Mgr. Tomáš Cidlina